Der Sondershäuser Bäckeralltag vor über 100 Jahren (Teil 2)
Bild: Karnstrasse 1980
Bericht von Hermann Müller (1891 – 1984), aufgeschrieben von seinem Sohn:
Am 15.03.1902 konnten meine Eltern noch in glücklicher Familie ihre Siberhochzeit feiern. Aber schon bald stellten sich zunehmend gesundheitliche Beschwerden beim Vater ein. Vom Jahre 1902 an litt er ständig an Nieren und Blase, er trank Wildunger Wasser, und seine Bewegungen beschränkten sich in der weiteren Folge immer mehr auf die Stube. Ursache dieser Krankheit war eine schwere Erkältung gewesen, die er sich nach einem Gewitterregen im Walde zugezogen hatte, wobei seine Kleidung vollkommen durchnäßt worden war und er keine Möglichkeit hatte, sich schnell dieser Kleidung zu entledigen.
Vielleicht wurde diese Krankheit auch begünstigt durch das viele kalte Biertrinken, das er regelmäßig im Interesse seiner Kundschaft gezwungenermaßen in Kauf nehmen mußte. Es stellten sich desweiteren Schwindelanfälle ein, so daß er oft wie ohnmächtig der Länge nach zu Boden fiel.
Eines Tages fiel er nach rückwärts so ungünstig, daß er mit dem Hinterkopf auf das Straßenpflaster aufschlug, wobei er sich eine starke Wunde zuzog. Er nahm zu Hause auch vom Arzt verordnete Kohlensäurebäder und meine Mutter bereitete ihm das alles liebevoll und sorgsam zu. Aber wenn der Keim erst einmal im Körper steckt, verbreitet sich allmählich auch das Übel. So war es ein langsames Hinsiechen dieses großen, kräftigen und schweren Mannes, bis er kurz nach Vollendung seines 56. Lebensjahres bettlägerig wurde und am 26.11 .1904, einem trüben Novembertag, abends 9:00 die Augen für immer schloss.
Als mein Vater starb, war ich 13 Jahre alt. Über diesen plötzlichen Verlust war ich so erschüttert, daß ich weder an seiner Trauerfeier teilnehmen konnte, noch war ich fähig, irgendetwas zu unternehmen. Meine Augen waren drei Tage lang so geschwollen, daß ich wie blind umherging. Da er langjähriger Präses des Sondershäuser Kriegervereins war, wurde er mit allen militärischen Ehren auf dem Hauptfriedhof im Brückental beigesetzt.
Seine Grabstelle befand sich am Mittelweg links, etwa der Hälfte des Weges nach oben. Den Trauerzug führte die Musikkapelle des 3. Thüringischen Infanterieregiments Nr. 71 in Paradeuniform an. Ihr folgte ein ehemaliger Kriegskamerad mit einem schwarzen seidenen Kissen, auf dem sämtliche Orden und Ehrenzeichen des Verstorbenen lagen. Hinter dem von zwei Pferden gezogenen Trauerwagen folgte nach den Familienangehörigen eine Abordnung des regierenden Fürsten, Regierungsräte, der Bürgermeister, Mitglieder des Gemeinderates, die Schützenkompanie und die letzten Veteranen und Kriegskameraden.
Als der Sarg hinabgelassen wurde, schlossen drei Ehrensalven, abgegeben von 12 Angehörigen des Kriegervereins, die Totenehrung ab und das Tal gab das Echo zurück."
(Damit schließt der Bericht aus den Kindheitserinnerungen meines Vaters, des Lehrers Friedrich Wilhelm Hermann Müller).
Der Tradition folgend, war nun der älteste Sohn der Familie dazu bestimmt, das Bäckerhandwerk des Vaters fortzusetzen. Albert Louis August Ernst Müller, geb. am 11.03.1879 in Sondershausen, übernahm nun das Geschäft nach dem Tode seines Vaters, noch unverheiratet in seinem 26. Lebensjahre. Er hatte, ebenso wie sein Großvater Christian Viktor Ernst Müller, das Bäckerhandwerk in der gleichen Bäckerei Rosenthal in Nordhausen erlernt und ging danach bis zur Übernahme des elterlichen Geschäftes als Bäckermeister und Konditor einige Zeit nach Berlin.
Am 29.10.1907 verheiratete sich Albert Louis August Ernst Müller, der Bruder meines Vaters, mit Rosa Franke, geb. 29.12.1879 in Jecha. Aus ihrer Ehe gingen der Sohn Hans Müller, geb. am 31.03.1909 und Margarethe, später verehelichte Kröger, geb. am 29.03.1915 in Sondershausen, hervor.
Meine Großmutter lda Müller, geb. Hirsch verwaltete Haus und Geschäft nach dem Tode ihres Mannes noch bis zum 31.12.1910, lt. Kaufvertrag erfolgte am 01 .01 .1911 offiziell die Übernahme durch ihren Sohn Albert Louis August Ernst Müller, der den Backbetrieb im Elternhaus zu dieser Zeit bereits seit drei Jahren geführt hatte.
Die Familienverhältnisse wurden nun neu geregelt, und die Witwe lda Müller bezog mit ihrem jüngsten Sohn Hermann, der die Seminarschule in Sondershausen besuchte, die obere Etage des Geschäftshauses, Karnstraße 1.
Mit der Übernahme des Geschäftes durch den ältesten Sohn der Familie, ging auch das durch den Fürsten Karl Günther verliehene Prädikat "Hofbäcker" an den Bäckermeister Ernst Müller über. Während der Zeit des ersten Weltkrieges war die Bäckerei geschlossen.
Der Bäckermeister Albert Louis August Ernst Müller wurde Soldat und war in diesem Krieg in einer Feldbäckerei eingesetzt, ebenso wie sein Vater Karl Friedrich Leopold während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71.
Neustadtstrasse 1980
Nach dem ersten Weltkrieg führte Ernst Müller mit seiner Familie die Bäckerei weiter bis zu seinem Tode am 03.07.1938. Er litt in seinen letzten Lebensjahren zunehmend an einer Halsdrüsenkrankheit, verbunden mit Asthmabeschwerden, die ihn bei seiner schweren körperlichen Arbeit sehr stark belastete und ihn nur 59 Jahre alt werden ließ. Ernst Müller war wie sein Vater Leopold ein großer, kräftiger, schwerer Mann, bescheiden, gutmütig und von liebenswerten Charaktereigenschaften geprägt, nicht nur in Äußerlichkeiten diesem sehr ähnlich. Als uns die Nachricht von seinem Tod erreichte, schrieb mein Vater, damals als Lehrer in Mehrstedt bei Schlotheim ansässig, in unser Familientagebuch:
"Heute ist einer unserer Besten aus der Familie von uns gegangen. Schon jahrelang litt er an Asthma. Starke Schwellungen der Halsdrüsen vermehrten das Übel. Dazu kam allgemeiner körperlicher Verfall, bis ein Herzschlag seinem Leiden ein Ende bereitete."
Albert Louis August Ernst Müller war in unserer Familie der 3. Bäckermeister in Folge, der das 60. Lebensjahr nicht erreicht hatte. Er erlag dem gleichen Schicksal wie sein Vater und sein Großvater. Die permanente Überforderung im täglichen Leben mit wenig Rücksicht auf die eigene Gesundheit, die dem Bäckerhandwerk früherer Zeiten anhängig war, kann wohl als Hauptursache für ein vorzeitiges Ableben angesehen werden.
Albert Louis August Ernst Müller war langjähriger Obermeister der Sondershäuser Bäckerinnung. In dem Nachruf durch die Innung werden besonders seine Hilfsbereitschaft und vorbildlichen Charaktereigenschaften gewürdigt, die ein bleibendes Andenken vermitteln.
Nun ging das Geschäft an seinen Sohn Hans Müller über, bereits in der 4. Generation als Bäckermeister in diesem Hause, mit einer erneuten Unterbrechung durch Schließung während des Zweiten Weltkrieges, Wiedereröffnung nach dem wirtschaftlichen Neubeginn der Nachkriegsjahre und Fortführung bis zum 01.07.1966, dem Tag der endgültigen Aufgabe der Bäckerei, nachdem das Geschäft nunmehr über 110 Jahre in Familienbesitz war.
Hans Müller gab das Geschäft im Wesentlichen aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig auf, wohlwissend aber, daß die Stadt beabsichtigte, das gesamte sogenannte "Schwarze Viertel" im Rahmen des Wohnungsbauprogrammes abzureißen und neu aufzubauen.
Es gelang ihm aber, noch einen Käufer für das Geschäft zu finden. Mein Vetter, der Bäckermeister Hans Müller, starb am 19.11.1988 im Alter von fast 79 dreiviertel Jahren.
Vor dem Abriss 1980
Der Nachfolger, Bäckermeister Schulze, arbeitete hier noch vom 01.07.1966 bis zum 07.05.1979. Von dieser Zeit an war das Gebäude nicht mehr bewohnt und am 04.03.1981 wurde es niedergelegt. Im Familientagebuch steht die Eintragung meines Vaters:
"Vierzehn Tage nach meinem 90. Geburtstag stand ich vor den Trümmern meines Vaterhauses, in dem auch ich geboren wurde. Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit und neues Leben blüht aus den Ruinen!" Über den Sinn (oder Unsinn) eines derartigen Flächenabrisses, der einen ganzen Stadtteil betraf, gehen heute die Ansichten der Fachleute zu Recht weit auseinander. Wenn auch schon zu viele Häuser nicht mehr bewohnbar und dem Verfall preisgegeben waren, hätte nach heutigen Gesichtspunkten so manches Gebäude saniert und damit erhalten werden können, insbesondere solche in Fachwerkbauweise, wie es das Bäckereigebäude unserer Vorfahren in der Karnstraße 1 gewesen war.
Meiner Großmutter lda Müller, geb. Hirsch war das gleiche Schicksal beschieden, wie ihrer Schwiegermutter Luise Müller, geb. Merx, denn auch sie wurde mit 49 Jahren Witwe.
Karoline Mathilde Luise lda Müller starb am 02.01.1942 in Sondershausen im Alter von 86 Jahren und überlebte damit ihren Ehemann Karl Friedrich Leopold um 38 Jahre und ihren ältesten Sohn Albert Louis August Ernst um vier Jahre. Ihre Urne kam auf das Grab ihres Ehemannes Leopold im Brückental (Hauptfriedhof).
Beide Frauen hatten den Warenverkauf im Bäckerladen jeweils 30 Jahre lang allein geführt neben ihrer Aufgabe als Mutter, bis dann die jeweilige Schwiegertochter ins Haus kam.
lda Müller, geb. Hirsch und Luise Müller, geb. Merx erfreuten sich gleichermaßen bester Gesundheit und Geisteskraft bis in ihr hohes Alter.
Gemälde-G-Jahn-1982