Der Sondershäuser Bäckeralltag vor über 100 Jahren (Teil 1)


Bild: Bäckerei nach dem Umbau 1899

Als späterer Lehrer hat mein Vater einmal aufgeschrieben, wie sich der Tagesablauf in der Bäckerei unserer Vorfahren während seiner Jugendzeit, also der Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, somit vor nunmehr über 100 Jahren, damals arbeitsmäßig vollzog.

Hier folgt sein Bericht:
"In der Bäckerei begann der Arbeitstag eine Stunde nach Mitternacht um 01: 00. Meine Eltern schliefen in der Stube über der Torfahrt, also von der Seite der Karnstraße her. Ein Klingelzug aus Draht mit Holzgriff in Mannshöhe lief an der Außenwand des Hauses nach oben in das Schlafzimmer. Um diese genannte Stunde betätigte ein beauftragter Nachtwächter der Stadt diese Einrichtung. Meine Mutter sprang aus dem Bett und rief aus dem Fenster: "Ja, gut!" Über dem Bett der Eltern befand sich an der Wand ein zweiter Klingelzug, der zum Schlafzimmer der Gesellen und der Lehrlinge führte. Mutter schellte und horchte dann, ob die Burschen auch tatsächlich aufstanden und sich an die Arbeit begaben. Nachdem das geschah, konnte sie weiterschlafen. Aber es war meistens nur ein leichter Schlaf. Oft stand sie nach einer Stunde wieder auf und kontrollierte, ob die Arbeit auch gut vorankam.
Der Vater wurde um 04:30 durch den Gesellen geweckt. Zu dieser Zeit wurden zuerst die Brötchen geschoben. Die Mutter stand um 05:00 auf. Dann kamen auch schon die Frauen, die die frischen Brötchen in der Stadt nach Bestellung austrugen. Die Ware wurde schnell in namentlich gekennzeichnete Beutel verteilt, damit diese um 05:30 beim Empfänger eintrafen. Jetzt wurde das Brot vorbereitet, der Backofen gereinigt und wieder neu beheizt.

Um 09:00 war das erste Geschoß im Ofen, nach einer Stunde das zweite Geschoß, jeweils 50 bis 60 Brote. Während das Brot im Ofen war, gingen nun alle Beschäftigten, ob Mann oder Frau, daran, Trocken-, Obst- oder Napfkuchen vorzubereiten. Nachdem das Brot aus dem Ofen war, wurde wieder neu beheizt. Um 11:00 kamen die Kuchen in den Ofen, und gegen 12:00, wenn alle Kuchen fertig waren, wurde zum Mittag gegessen. Am Tisch saßen von oben nach unten:
Der Vater, die Mutter, die Großmutter, meine 4 Geschwister, 1 Geselle, 2 Lehrlinge, ferner 1 Dienstmädchen und 3 bis 4 Schüler, die ständig bei uns in Pension wohnten. Zusammen waren es also mit mir 15 bis 16 Personen.
Der Geselle, namens Hermann Grohbecker aus Stockhausen, hatte schon bei meinem Großvater Christian Viktor Ernst Müller angefangen zu arbeiten und blieb bis 1899 bei uns.
Er war somit sage und schreibe 27 Jahre lang als Geselle in unserem Geschäft tätig gewesen. Erst danach ging er endgültig wieder zu seinen Angehörigen nach Stockhausen zurück. Für uns alle war er wie ein Familienmitglied, mit dem wir als Kinder auch gern spielten.

Der Vater achtete streng auf Ordnung, Disziplin und Sauberkeit bei Tische. Er pflegte eine lebhafte Unterhaltung über das Zeitgeschehen zu jeder Mahlzeit. Manchmal geschah es auch, wenn ein Lehrling sich nicht der gegebenen Ordnung fügen konnte, daß er die Faust des Meisters im Rücken zu spüren bekam.
Die Ladenöffnungszeiten waren damals noch durchgehend geregelt. Wenn es klingelte, mußte natürlich auch während des Mittagstisches, die Kundschaft bedient werden.
Am Nachmittag wurden Brot und Kuchen an die Stammkundschaft in der Stadt ausgetragen. Es mußte Zwieback vorbereitet und geröstet werden. Gelegentlich wurde auch eine Geburtstagstorte bestellt, die mit besonderer Sorgfalt am Nachmittag zubereitet wurde. Gegen 17:00 trat für Gesellen und Lehrlinge die erste Bettruhe bis gegen 20:00 ein. Dann mußte schon wieder der Sauerteig für den nächsten Tag angerührt werden. Inzwischen aß die Familie ihr Abendbrot, anschließend die Gesellen, Lehrlinge und das Dienstpersonal.
Der Vater ging in den meisten Fällen am Abend noch in eine Gemeinderatssitzung, eine Versammlung des Krieger- oder Veteranenvereins, zum Schützenverein oder in die Liederhalle. In jüngeren Jahren war er auch Mitglied im Sondershäuser Wanderverein.

Er mußte sich sehr oft auch in einer der Gastwirtschaften sehen lassen, die von uns Backwaren bezogen. Man nannte das "Kundschaft poussieren"!
Aus all diesen Gründen, die ihn zur Öffentlichkeit verpflichteten, war er abends selten zu Hause. War es aber doch der Fall, daß er einmal zu Hause sein konnte, dann spielte er selbst oder eines meiner älteren Geschwister auf dem tafelförmigen Klavier ihm etwas aus Ouvertüren und Liedern vor. Dieses Spinett stammte noch von seinen Eltern, also von Christiane Dorothea Luise und Christian Viktor Ernst Müller. Mutter und Großmutter strickten dabei Strümpfe. Wenn ich, als der Jüngste der Familie, zu den Liedern pfeifen wollte, sagte er: "Hier wird gesungen und nicht gepfiffen!" Wir hatten damals schon Gaslicht, überall als offene Flamme, den sogenannten Schnittbrenner. Das Auerlicht oder auch als "Strümpfchen" bezeichnet, kam erst später auf. Anstelle des Klingelzuges an der Wand wurde im Laufe der Zeit eine Wanduhr mit Wecker angeschafft.

Leopold Müller

Der Laden war täglich bis 22:00 geöffnet, dann war allgemeine Nachtruhe. Nach 20:00 kamen jedoch nur noch vereinzelte Kunden, aber wenn sie kamen, dann sicher auch mit der Absicht, ein längeres Schwätzchen zu machen. Mutter war jedoch oft ungehalten über diesen Zeitverlust. Erst mit dem 25.10.1897 wurde die neue Ladenschlußzeit nun auf 21:00 festgelegt. Sonntags war das Geschäft von 6:00 bis 9:00 geöffnet, während des Gottesdienstes für zwei Stunden geschlossen, dann wieder von 11 :00 bis 14:00 geöffnet, danach für zwei Stunden geschlossen, um von 16:00 bis 19:00 wieder geöffnet zu werden.
Hätten wir damals nicht unsere rüstige Großmutter Christiane Dorothea Luise gehabt, die dann das Ladengeschäft bediente, meine Eltern hätten auch am Sonntag keine ruhige Stunde für sich in Anspruch nehmen können. Wir verfügten über einen ansehnlichen Viehbestand, bestehend aus 6 Schweinen, 30 Hühnern, 1 bis 2 Ziegen, 4 bis 5 Gänsen und 40 bis 50 Tauben. Zu dessen Versorgung mußte 1,0 ha Land im Borntal bewirtschaftet werden, in der Regel bebaut mit Getreide, Kartoffeln, Klee und Gemüse. Manchmal war auch ein Stück davon verpachtet. Auf diesem Stück Land steht heute das Hochhaus im Stadtteil Borntal. Der Backofen wurde damals noch ausschließlich mit Holz befeuert. Da hieß es dann oft: Heute Nachmittag 14:00 kommen Ohle und Krolle! Das waren einspännige Fuhrleute, die wöchentlich ein- bis zweimal in den Wald fuhren, um Wellenholz zu holen. Eine der männlichen Personen aus der Bäckerei steckte sich den Holzzettel in die Tasche und fuhr mit. Natürlich war auch ich dabei, denn das war für mich immer ein großes Erlebnis!
Im Jahre 1900 ließ der Vater den Backofen auf Kohlefeuerung umbauen. Es war der erste Kohleofen einer Bäckerei in der Stadt. Von dieser Zeit an mußten nun in regelmäßigen Abständen die Kohlewaggons auf dem Bahnhof entladen werden.

Vorbei war es nun für mich als Kind von 9 Jahren mit der schönen Waldromantik, wo die Männer beim Holzaufladen ihre grünen Weichselpfeifen rauchten und wo der Vater mich in alle Geheimnisse des Waldes einweihte, mit seinen mir noch unbekannten Pflanzen und Tieren und er mich mit ihnen vertraut machte. Aber es waren für mich die besten Jahre, in denen mir mein Vater oder auch mein 12 Jahre älterer Bruder Ernst einen reichen Naturkundeunterricht vermittelten. Bald kannte ich sehr viele Kinder der heimischen Flora, Pilze, Wildfrüchte und vieles, was da lebt und kriecht im Gebüsch und Laube.
Diese Kindheitserlebnisse gaben mir eine solide naturwissenschaftliche Grundlage, gepaart mit praktischen Erkenntnissen, die für meine spätere Tätigkeit als Lehrer von hohem Wert waren.
Ich hatte in meinem Elternhaus eine glückliche und reiche Kindheit mit viel Liebe zur Natur und zur Familie, die mir sichere Geborgenheit gab. Bis zu meinem 21. Lebensjahr habe ich mein Elternhaus nie verlassen müssen.

Familie Müller

 

Wird fortgesetzt.